Das hatte er nicht erwartet, obwohl er vorhin selbst daran denken musste. Als Lea klein und noch vieles gut war, lag sie manchmal auf Martins Bauch und er las ihr die Abenteuergeschichten vor von Sindbad dem Seefahrer oder Pippi Langstrumpf. Und er las die Geschichten aus der Bibel. Mehr noch als Tausend und eine Nacht oder Astrid Lindgren liebte Lea die Gleichnisse im Neuen Testament, die Geschichten vom Schatz im Acker, vom Sämann, vom verlorenen Sohn. Und dann deuteten sie gemeinsam um die Wette. Jedes Mal hatten sie wieder eine andere Bedeutung gefunden, was das Sandkorn, was der Schatz, was der Acker darstellen könnte. Diese Geschichten kamen ihnen beiden vor wie Zauberhüte, aus denen man immer mehr herausziehen konnte, obwohl gar nichts da war.
«Papa, Mama!» Lea riss ihn aus den Gedanken. «Ich will ehrlich mit euch sein: Ich musste raus aus der Schweiz, aber vor allem weg von daheim. Die Anspannung, der Druck, der Stress zuhause, ich habe das alles nicht mehr ausgehalten.» Martin wusste, wovon sie sprach. Ihm kamen die zwielichtigen Geschäfte in den Sinn. Sie waren in den letzten Jahren immer profitabler geworden und nahmen ihn zunehmend in Anspruch. Seine ermattete Beziehung zu Sarah kam ihm vor Augen. Ihre Ehe war heute wortkarger und giftiger denn je. Und dann der Glaube: diese leeren Gebete und unerträglichen Gedanken.
«Ich war auf Ibiza, wollte feiern und die Enge zuhause vergessen, mein altes Leben, die Sorgen, den Druck loswerden», erzählte Lea jetzt in klarem Bild und Ton. «Zuerst war es grossartig, die Wärme, die Leute, das Meer. Dann wurde ich krank, sehr krank. Es war schrecklich. Aber im Spital ist etwas passiert mit mir. Seit langer Zeit habe ich gebetet - ich will nur noch nach Hause.»
Jetzt brach für Martin alles ein.
Draussen schneit es dicht. Die erste weisse Weihnacht seit Jahren. Martin fragt sich: «Was bedeutet zu Hause sein wirklich?» Auf dem Display wird es dunkel, der Gebirgshintergrund verschwindet. Nur der Schein einer Laterne beleuchtet Leas Gesicht, das sich rhythmisch bewegt zu ihren Schritten auf dem Kies. Martin und Sarah sehen einander an, mit plötzlich vertrautem Blick, in dem sich dieselbe Frage, dieselbe Hoffnung spiegelt – bis es an der Haustür klingelt.