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Geschenkt – das ganze Leben?!

Das Leben als Geschenk für mich und andere
 
Publiziert: 16.10.2018

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Von Helena Gysin

Für viele ist ein gutes Leben dann, wenn es vor Krankheit verschont wird. Oder wenn am Ende des Monats Geld übrigbleibt und das Sparguthaben wächst oder wenn andere Menschen durch die anvertrauten Fähigkeiten beschenkt werden. Doch was ist ein gutes Leben? Eine Spurensuche.

Die letzten 14 Monate im Leben meines Vaters waren sehr beschwerlich. Im Alter von 91 Jahren musste er seine Frau unverhofft loslassen, sie starb nach 62 gemeinsamen Ehejahren. Er selber war schon länger schwach, sehr schwach! Vom Socken anziehen am Morgen bis zum Gang auf die Toilette, vom Rasieren über das Hinlegen – alles, aber auch wirklich alles kostete ihn viel Kraft und Energie. Und dann, eine Woche vor seinem Tod, als er nicht mal mehr seine geliebte Ovomaltine ohne Anstrengung schlucken konnte, sagte er wieder diesen Satz, den er auf seiner letzten Wegstrecke immer wieder sagte: «Das isch doch kes Läbe meh!» Ich konnte und wollte ihm nicht widersprechen. In mir kamen manchmal die gleichen Gedanken hoch. Ich mochte ihn nicht zu Dankbarkeit motivieren, denn was gab es effektiv noch zu danken? Vielleicht, dass er so privilegiert und gut umsorgt in einem Altersheim in der Schweiz und nicht irgendwo in einem Entwicklungsland leben durfte? Ja, bestimmt! Und doch: Ist das Leben wirklich ein Geschenk vom hilflosen Anfang in absoluter Abhängigkeit bis zum mühseligen Schluss wieder in völliger Abhängigkeit? Dazwischen ein paar mehr oder weniger gute Jahre?!

Gestalten Sie Ihr Leben!

Manche Weichen sind gestellt, ob von Ihnen selber oder durch das Zusammenspiel mit Freunden und Partnern. Manche Entscheidungen, die Sie einmal getroffen haben, beeinflussen seither Ihr Leben. Ich denke da an die Partner- oder Berufswahl oder daran, dass manche ihren Wohnort durch einen Haus- oder Wohnungskauf nicht gerade in Stein gemeisselt, aber doch eher definitiv festgelegt haben. Manche Umstände entziehen sich der Wahlfreiheit ganz oder teilweise. Den Blutdruck können Sie zwar durch ungesunde Ernährung in die Höhe treiben, die erbliche Veranlagung entzieht sich aber Ihrem Einfluss. Dass Sie und ich in der reichen Schweiz leben, hat allenfalls damit zu tun, dass wir einfach unheimlich Glück hatten, hier geboren zu werden – oder auch damit, dass Sie sich entschlossen haben, Ihre Heimat zu verlassen und hierhin zu ziehen. Während ich diesen Artikel schreibe, begegnet mir das Zitat von Elisabeth Marti, einer Frau, die als Verdingkind in ihrer Kindheit viel Gewalt und allerlei unschöne Dinge erlebt hat. Sie sagt: «Es gab einen Zeitpunkt, wo ich mich entscheiden musste: entweder für immer leiden oder den Mut aufbringen, das Leben zu leben.» Auch dieses Beispiel zeigt: Niemand ist nur Opfer, jeder Mensch hat einen kleineren oder grösseren Handlungsspielraum. Entdecken Sie Ihre Gestaltungsmöglichkeiten!

Setzen Sie Ihre Talente ein!
Dass wir unser Leben geschenkt bekamen, ist – schaut man auf die hohen Abtreibungszahlen – an sich schon ein kleines Wunder. Was wir nun aus diesem Leben machen und wie sehr unser Leben zum Geschenk für Menschen um uns herum wird, das liegt an uns. Jesus erzählte einmal eine Geschichte über einen reichen Mann, der für eine unbestimmte Zeit ins Ausland reisen wollte. Bevor er ging, verteilte er sein Vermögen an seine Diener. Einem gab er mehr, einem anderen weniger. Die Kriterien, von denen er sich beim Austeilen leiten liess, kennen wir nicht. Vielleicht stellte er seinen Mitarbeitern mit der Höhe des Geldbetrages so etwas wie ein Zwischenzeugnis aus oder verteilte «Boni», um ihre Motivation zu erhöhen. Der Auftrag lautete für alle gleich: «Handelt mit dieser Summe, bis ich zurückkomme.» Manche Übersetzungen geben die Währung in Pfund an, manche in Talenten. Die Doppeldeutigkeit, die das Wort Talent für uns heute hat, gefällt mir. Jeder Mensch – Sie und ich – haben Talente erhalten, auch dann, wenn wir uns kaum als talentiert bezeichnen würden. Tatsache ist: Sie haben gewisse Fähigkeiten, die es Ihnen erlauben, Ihr Brot zu verdienen und Ihr Leben zu bestreiten. Vielleicht haben Sie zudem Nerven wie Drahtseile, spielen ein Instrument oder kochen, wie mein Schwiegervater, das beste Blaukraut weit und breit. Oder Sie sind eine Person, der es leicht fällt anderen Menschen zuzuhören und ihnen mit kleinen Handreichungen das Leben zu erleichtern.

Not in der Welt – ein Auftrag an uns
Wunderbar, wenn wir uns daran freuen können, dass wir leben. Toll, wenn wir unser Leben sogar als ein gutes Leben bezeichnen. Aber, ich bin überzeugt, dass ein Leben erst dann so richtig lohnenswert ist, wenn es auch für andere zum Geschenk wird. Talente verpflichten uns. Wenn wir sie nämlich vergraben, so wie einer der Diener aus der Geschichte es getan hat, dann sind die Talente nutzlos verschwendet. 1782 wurde ein Mann namens Christian Friedrich Spittler geboren. Er prägte den kernigen Satz: «Was hilft’s die Notstände der Zeit zu bejammern? Hand anlegen müssen wir!» Dieser Mann gründete eine Buchhandlung, eine Ausbildungsstätte mit Namen «Pilgermission», die heute noch als Theologisches Seminar St. Chrischona existiert. Rund um Basel entstanden durch seine Initiative ungefähr 30 diakonische Werke, u.a. eine «Taubstummenanstalt » und eine «Kinderrettungsund Lehranstalt». Er reagierte damit auf Nöte, die er wahrnahm und die ihn nicht kalt liessen. Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft wieder ähnliche Brennpunkte gibt, wie damals zur Zeit Spittlers. Heute sind es vielleicht alte, einsame Menschen, Flüchtlinge oder Kinder. Ja, tatsächlich Kinder! Im September war im Tagesanzeiger zu lesen, dass in der Schweiz rund 108‘000 Kinder in armen Verhältnissen leben und 262‘000 als armutsgefährdet gelten. Eine wahnsinnige Zahl! Viele davon seien unterversorgt mit Vitaminen und Spurenelementen, weil sie oft nur mit Teigwaren und Kartoffeln ernährt würden. Umso mehr sträuben sich mir bei solchen Nachrichten die Nackenhaare, da anscheinend rund ein Drittel aller in der Schweiz produzierten Lebensmittel zwischen Feld und Teller verlorengehen oder verschwendet werden. Pro Person landen demnach täglich 320 Gramm einwandfreie Lebensmittel im Abfall. Das entspricht pro Jahr rund zwei Millionen Tonnen Nahrungsmittel oder der Ladung von rund 140‘000 Lastwagen, die aneinandergereiht eine Kolonne von Zürich bis Madrid ergeben würde.

Das doppelte Lächeln
Zurück zur Geschichte: Talente, Gaben und Stärken erfüllen nur dann ihren Sinn, wenn wir sie einsetzen. Genau das macht Jesus deutlich: Der reiche Mann lobte bei seiner Rückkehr seine Diener, die sein Geld vermehrt hatten. Unabhängig davon wie viel er ihnen bei seinem Weggang anvertraut hatte. Nur der eine, der aus Pillauter Angst vor dem strengen Meister das Geld in der Erde vergrub, kam schlecht weg. Der Chef stellt ihm ein mangelhaftes Zeugnis aus: «Du fauler Knecht!», sagte er: «Hättest du doch das Geld wenigstens auf die Bank gebracht, damit ich es mit Zinsen zurück bekommen hätte.» In diesem Sinne möchte ich Ihnen Mut machen: Überwinden Sie Ihre Ängste, Ihre Selbstzweifel, Ihre Ausreden und Ihre Faulheit und sorgen Sie dafür, dass Ihre Gaben etwas bewirken in dieser Welt. Vielleicht bringen Sie nur einen bescheidenen Zins hervor, aber unter Umständen gelingt es Ihnen, Gottes Investment in Sie zu verdoppeln. Aus einem Lächeln werden zwei. Durch Ihre praktische Hilfestellung wird eine Mutter entlastet und eine ganze Familie entspannter. Mit Ihrer einen Stimme im 30-köpfigen Chor wird ein ganzes Publikum verzaubert.

Geschenk für die Gesellschaft
Vor lauter Betriebsamkeit haben viele vergessen, dass wir einander auf eine ganz einfache Art mit einem kostbaren Gut beschenken können: Zeit. Was früher gerade in Dorfgemeinschaften ganz selbstverständlich war, muss heute durch verschiedene Institutionen geregelt werden. Da gibt es Schreibstuben, wo Menschen hinkönnen, die Hilfe brauchen, um einen Brief zu verfassen, ein Gesuch zu stellen. Da gibt es «Nachbarschaftshilfen », die Taxidienste und vieles mehr anbieten. Eben gerade, weil zum Nachbarn im gleichen Haus keine Beziehung mehr besteht.

Bei manchen Organisationen können Helfende die Zeit, die sie einsetzen, auf ein Konto gutschreiben lassen und diese Zeit dann später bei Bedarf beziehen oder jemandem schenken. Ich glaube, dass wir über diese Entwicklung nachdenken und uns selber die Frage stellen müssen, wo wir Freiraum haben oder uns Freiraum schaffen müssten, damit unser Leben zu einer Bereicherung wird für Menschen in unserem Umfeld.

Liebe in Geschenkpapier gewickelt
Aber auch im Kreis unserer Familien und Freunde haben wir vergessen, dass die Zeit, die wir miteinander am Tisch, beim Sport, auf dem Spielplatz verbringen, ein Geschenk an unsere Nächsten ist. Ich beobachte seit Jahren, dass sich die – pardon – «Unsitte» breitmacht, dass bei einer Einladung ein kleines Geschenk mitgebracht wird. Bei einem Gegenbesuch kommt dann zwangsläufig die andere Seite unter Druck. Irgendwie muss man sich ja revanchieren … Vielleicht sind diese krampfhaft gesuchten Mitbringsel ein Indiz dafür, dass Gegenstände für uns per se einen höheren Wert haben als Zeit, auch wenn diese immer mehr zu einem raren Gut wird. Hätte ich das Sagen, ich würde dieses zwanghafte Schenken sofort abschaffen. Für Menschen, die es nicht aushalten ohne Geschenk an der Türe von Freunden und Verwandten zu klingeln, würde ich am liebsten einen T-Shirt- Verleih aufziehen. Die bunten T-Shirts wären mit der Aufschrift bedruckt: ICH bin ein Geschenk.

Gerade jetzt, wo Weihnachten vor der Türe steht und das ganze Geschäft rund ums Schenken Hochkonjunktur hat, ist ein guter Zeitpunkt innezuhalten und über das Schenken nachzudenken. In der Herkunftsfamilie meines Mannes gehört es zur Tradition, dass im Vorfeld der Weihnachtsfeier Namenslose gefertigt und gezogen werden. So beschenkt dann der Grossvater die Freundin des Enkels, der Onkel seine Nichte, die Schwester ihren Bruder, eine zukünftige Schwiegertochter aus der jüngeren Generation einen Onkel ihres Freundes … Herauszufinden, was demjenigen Freude machen könnte, führt manchmal unumgänglich zu einer ihm/ihr näherstehenden Person und gleicht nicht selten einem kleinen Spiessrutenlauf. Nicht alle sind begeistert davon. Aber am Abend des Festes wird dennoch mit Spannung erwartet, welche Ideen da in Geschenkpapier gewickelt wurden. Wie jeder auf seine Weise die Frage beantwortet hat, was den andern freuen könnte – wenigstens einmal im Jahr. 2017 verzichteten wir auf diese Tradition, die einen waren darüber erleichtert, die anderen wehmütig. Wir sammelten Geld und finanzierten damit einem Kind in Rumänien, das mit einer Lippengaumenspalte geboren wurde, die Operation. Für uns ein kleiner Verzicht, für das Kind und seine Familie ein grosses Geschenk. Ich gebe es zu: in meiner Brust schlagen zwei Herzen. Aufspringen auf den Zug der genau auf Weihnachten terminierten Liebe? Einmal im Jahr darüber nachdenken, was einen Menschen in meinem familiären Umfeld freuen könnte? Oder doch lieber in Menschen investieren, die auf irgendeine Art Mangel leiden? Oder vielleicht beides? Übrigens: Weihnachten bietet viele Möglichkeiten unsere Zeit an Menschen zu verschenken, die weniger privilegiert sind als wir. Es spielt keine Rolle, ob man bei einer Feier für Asylanten und Flüchtlinge mithilft oder ob man Alten, Einsamen oder einfach nur Singles, Geschiedenen, Alleinerziehenden die Tür öffnet und sie an den Tisch einlädt. Um es noch einmal mit Spittler zu sagen: «Was hilft’s die Notstände – die Einsamkeit – der Zeit zu bejammern? Hand anlegen müssen wir!»

Dankbarkeit üben
Der Versuch, dankbar auf das Leben und die eigenen Umstände zu sehen, kann manchen Schatten verjagen und «Unebenheiten» in einem neuen Licht erscheinen lassen. Gerade dann, wenn nicht alles traumhaft läuft, nicht jeder Wunsch erfüllt ist, manches besser sein könnte. Ich bin überzeugt: Der Weg zu einem besseren Leben führt an der bewussten Dankbarkeit nicht vorbei. Gerade nahm ich teil an einer Abschiedsfeier für eine 82-jährige Frau. Sie hatte MS. Sie konnte schon lange nicht mehr viel leisten, sass mehrheitlich im Rollstuhl – und doch hatte sie sich Dankbarkeit bewahrt. Ihr letztes Wort vor ihrem Tod war dann auch: «Danke.» Das hat mich zutiefst berührt und beeindruckt. Wechseln wir die Perspektive, vergleichen wir uns mal «nach unten», mit den Menschen, die aus irgendeinem Grund mehr zu jammern haben oder hätten als wir. Möglicherweise wird dann unser Blick auf unser eigenes Leben ein bisschen gnädiger und dankbarer. Gott hat Ihnen Ihr Leben geschenkt, er hat Ihnen die Zeitspanne vom hilflosen Anfang bis zum mühseligen Schluss anvertraut. Machen Sie, soviel an Ihnen liegt, das Beste daraus.

 
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