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Der Mensch denkt – Gott lenkt

 
Publiziert: 10.12.2013

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Von Lukas Niederberger

Tagtäglich begegnen wir einem Supermarkt der Möglichkeiten. Dies zwingt uns zu Entscheidungen. Was nehmen, tun, schauen, lesen, wählen, reden, arbeiten wir? Diese Entscheidungsvielfalt kostet uns viel Energie. Manche Menschen sind ob all der Anforderungen richtig entscheidungsmüde geworden. Und was, wenn wir Gott Entscheidungen überlassen? Macht Gott das Leben einfacher? Der Theologe Lukas Niederberger hat sich in seinem Buch «Am liebsten beides» dazu Gedanken gemacht.

In Entscheidungsseminaren lasse ich die Teilnehmenden jeweils ihre anstehende Entscheidung aufstellen. Sie wählen dafür Personen, die  ihre Ziele und Werte sowie die inneren und äusseren Treiber und Hemmer repräsentieren. Diese Rollenträger werden von der Person in Bezug zu den verschiedenen Wahloptionen im Raum positioniert und haben daraufhin die Möglichkeit, mit den anderen Stimmen im Orchester in Kontakt zu treten und sich im Raum zu verschieben, bis sich eine klare Lösung des Wahlprozesses ergibt. Manche wählen von sich aus eine Person, die die göttliche Stimme repräsentiert, und stellen diese im Raum auf. Andere stellen sich die Frage überhaupt nicht. In Bibel und Theologie wird immer wieder betont, Gott habe dem Menschen seine Schöpfung anvertraut und ihm Freiheit und Verantwortung verliehen, damit er sich für das Gute entscheide. Gleichzeitig sprechen zahlreiche biblische Texte davon, dass Gott für jeden Menschen einen fixen Plan hat und dass der Mensch Gottes Willen zu erfüllen habe, wenn er zum Heil gelangen will. König David besingt dieses göttliche Wissen und Wollen radikal und poetisch in seinen Psalmgebeten:

«Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge, du kennst es bereits. Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.» (Psalm 139)

«Deine Entscheide sind gut. Ich will deinen gerechten Entscheidungen folgen. Lehre mich deine Entscheide! Durch deine Entscheide belebe mich.» (Psalm 119)

Der Widerspruch zwischen Plan und Freiheit
Wie können wir also gleichzeitig annehmen, dass ein göttliches Drehbuch in uns steckt und wir jeden Punkt in diesem Skript selbst entscheiden und gehen können und müssen? Wie können wir als freiheitsliebende, autonome und mündige Menschen selbstverantwortlich denken und handeln und uns gleichzeitig von Gottes Stimme und Willen lenken lassen? Wie verbinden wir intellektuell und existenziell einen Plan Gottes mit unserer Freiheit? Ist das nicht ein Widerspruch?

Gerade weil es theoretisch und faktisch nicht leicht ist, das Handeln von Mensch und Natur mit dem Plan Gottes in Einklang zu bringen, neigen manche Zeitgenossen dazu, diese Spannung einseitig aufzulösen, indem sie entweder einen göttlichen Plan in unserem Leben leugnen oder ihr Handeln radikal an religiösen Gesetzen orientieren. In einigen US-Bundesstaaten darf beispielsweise die biblische Schöpfungslehre als historische Realität vermittelt werden. Und  auch im deutschen Sprachraum gibt es Stimmen, die davon überzeugt sind, dass nicht die natürliche Selektion alle Tiere und Pflanzen geformt hat, sondern Gott höchstpersönlich. Selbst der Wiener Kardinal Christoph Schönborn schwärmte in einem Artikel in der «New York Times» von der «überwältigenden Evidenz für einen Plan in der Biologie». Wir sollten uns hüten, Gottes Willen allzu leicht und allzu schnell in biblischen Zitaten oder in der Natur zu erkennen. Gott bleibt letztlich immer ein  Geheimnis. Gott können wir zwar mit unseren menschlichen Worten und Bildern zu beschreiben und anzusprechen versuchen, doch stets mit dem Wissen im Hinterkopf, dass Gott weder «gross» und «lieb» noch «allmächtig » und «treu» ist. Wir können nicht sagen, wie Gott ist und was Gott genau von uns will. Gleichzeitig gibt sich Gott quer durch die Geschichte immer wieder zu erkennen: in Träumen und durch Propheten, in der Schönheit der Natur und Kultur sowie in den heiligen Schriften.

Es gibt nicht nur ein Entweder Oder
Wenn ich in einer bestimmten Frage spüren will, was Gott von mir will, sind die biblischen Geschichten mein erster Referenzpunkt. Ignatius von Loyola hat bereits vor 500 Jahren in seinen «Geistlichen Übungen» Menschen dazu geführt, durch das Meditieren biblischer Texte den göttlichen Willen und die eigenen Entscheidungen zusammenzubringen. Gerade weil es viele Fragen gibt, über die die Propheten und Jesus vor 2000 bis 3000 Jahren nie gesprochen haben, können wir uns nicht an biblische Zitate klammern, sondern müssen den tieferen Geist religiöser Texte zu erfassen suchen. Diesen finde ich heute auch in den zentralen Werten der meisten Religionen und Weltanschauungen wieder: Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden, Würde allen Lebens, Chancengleichheit und Toleranz.

Wenn wir Gottes Willen nicht klar und deutlich, immer und überall erkennen, so ist es auch nicht verboten, Gott um klare Signale zu bitten, wohlwissend, dass sich Gott so zeigt, wie er bzw. sie oder es will, und nicht so, wie wir dies gerne hätten.

Für die Mystikerin Teresa von Ávila (1515-1582) standen unsere menschliche Freiheit und der Plan Gottes nicht in Widerspruch. Sie mahnte auch nicht, dass wir zunächst Gottes Willen suchen und danach unseren eigenen Willen so zurechtbiegen sollten, dass er mit dem göttlichen Plan kompatibel wird – im Gegenteil: «Wer nicht weiss, was er will, weiss auch nicht, was Gott will.» Der Autor Carl Zuckmayer nannte seine Biografie «Als wär’s ein Stück von mir». Dieses Wort und Bild vermag den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem göttlichen Drehbuchautor und uns als Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne des Lebens aufzulösen. Offensichtlich besteht der erste Schritt zur Entdeckung des göttlichen Willens darin, die eigenen Sehnsüchte und Visionen zuzulassen sowie herauszufinden, was wir selbst wollen. Wollen wir unsere Berufung oder Bestimmung entdecken, ist das Horchen auf unsere Mitte also unerlässlich. Die Trennung, die wir immer wieder zwischen uns und Gott vornehmen, ist mentaler Natur und entspricht nicht der Realität.

Unser inneres Drehbuch existiert seit der Geburt. Und gleichzeitig gilt es dieses mit jeder Entscheidung und in jedem Augenblick selbst zu entdecken. Unsere Bestimmung steckt wie ein verborgener Schatz mitten in unserer Seele. Die einen spüren dies schon als Kleinkind, andere überhören die feinen inneren Signale ein Leben lang. Der Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl, bringt es auf den Punkt:

«Jeder Mensch hat eine eigene Berufung, im Leben etwas zu tun, was getan werden muss. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe kann er weder ersetzt werden, noch kann sein Leben wiederholt werden. Und so ist die Aufgabe eines jeden ganz einmalig, ebenso einmalig wie seine Möglichkeit, sie zu erfüllen.»

Bereits im Kind gibt es etwas, das dazu drängt, leidenschaftlich Cello zu spielen oder mit Herzblut Tiere zu pflegen. Als Jugendliche oder Erwachsene spüren manche Menschen den Drang, Gedichte zu schreiben, leidende Menschen zu begleiten oder die genetische Zusammensetzung des Menschen zu entschlüsseln. Andere geben sich ganz dem Sport oder den Künsten hin, wieder andere der Wissenschaft, der Politik, der Firma, der Familie, einer religiösen Gruppe oder einem sozialen Projekt. In jeder und jedem liegt etwas verborgen, das wir unterschiedlich benennen mögen: Berufung, Bestimmung, existenziales Muss, innerer Drang, Lebensskript oder Lebensplan. Jeder Mensch ist eine gute Idee, für die er sich entscheiden darf und muss. Manche Menschen erleben irgendwann in ihrem  Leben ein Schlüsselerlebnis, einen Moment, einen Augenblick innerer Klarheit, in dem sie genau wissen, was zu tun ist und welchen Weg sie  einzuschlagen haben. So sah ein Freund von mir einmal ein bestimmtes Bild in den Fernsehnachrichten und wusste augenblicklich: «Das ist es! Für dieses Anliegen muss ich mein Leben und meine ganze Energie einsetzen, sonst laufe ich am Leben vorbei!»

Die innere Bestimmung ist oftmals nicht nur schwer zu erkennen, sondern noch schwerer zu leben. Es braucht Mut, wenn aus der leisen Ahnung feste Gewissheit wird, wenn die innere Stimme zum Aufbruch bläst und wenn sich gleichzeitig von allen Seiten Ängste und Widerstände melden. Berufungen kamen schon den biblischen Propheten meist ungelegen und waren in der Regel unbequem. Um die eigene Bestimmung  erkennen und leben zu können, ist eine Haltung von ungeschützter Offenheit und Nacktheit unerlässlich.

Dass wir den göttlichen Plan und Willen in unserer Mitte erkennen, ist leichter gesagt als getan. Der weitgereiste UNO-Generalsekretär und Mystiker Dag Hammarskjöld wusste, wovon er sprach, als er in seinem spirituellen Tagebuch «Zeichen am Weg» den Satz schrieb: «Die längste Reise ist die Reise nach  innen.» Auf dieser Reise gibt es allerdings konkrete Hilfen und Schritte, wie wir uns dem Willen Gottes ein Stück weit annähern können.

Die  Bibel berichtet davon, dass Jesus sich in die stille Einsamkeit der Wüste oder auf einen Berg zurückzog, wenn er den Willen seines Vaters erkunden wollte. Der äussere Rahmen und die äussere Ruhe sind wichtig, um die feinen Stimmen und Signale im Getöse des Alltags wahrzunehmen. Der äussere Rahmen ist jedoch nicht absolut zwingend. Unsere Aufgabe und Bestimmung können wir mitten in der lebhaften Einkaufsmeile genauso entdecken wie in der Wüste. Entscheidend ist, dass wir unsere Sinne öffnen, unsere Antennen ausfahren, auf Empfang stellen und uns berühren lassen von dem, was um uns und in der weiten Welt geschieht.

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