Von Michelle Boss
Eigentlich bin ich denkbar schlecht qualifiziert, um über das Thema «Einsamkeit» zu schreiben. Ich habe früh geheiratet, bin Mutter von vier (noch) sehr beziehungsorientierten Kindern und arbeite in einem Team, in dem Teamarbeit wichtig ist und zwischenmenschliche Beziehungen gepflegt werden.
Einsamkeit – oder vielleicht besser Alleinsein – verknüpfe ich tatsächlich eher mit einer diffusen Sehnsucht. Stille, Zeit für mich, meinen Gedanken nachhängen und nach meinem ganz eigenen Rhythmus leben… und das vielleicht sogar tagelang. Das klingt für mich durchaus attraktiv.
Theoretisch jedenfalls. Denn ich muss zugeben, dass mich der Gedanke ans Alleinsein zugleich auch verunsichert. Vor Jahren habe ich ein Interview mit den Leitern eines Hauses der Stille geführt und bekam im Anschluss einen Gutschein für ein Wochenende in der Stille geschenkt. Der Gutschein liegt nach wie vor in einer Schublade. Schon mehrfach war ich kurz davor, ein solches Wochenende tatsächlich zu planen. Zu Beginn redete ich mir ein, aus organisatorischen Gründen davon Abstand zu nehmen. Mit vier kleinen Kindern war es nicht einfach, ein Wochenende lang zu verschwinden.
Doch die Ausrede gilt längst nicht mehr. Um ehrlich zu sein: Die Vorstellung, tagelang ganz mit mir allein zu sein – und dann auch noch möglichst ohne Unterhaltungsprogramm –, ist beängstigend. Langeweile ist ein Gefühl, mit dem ich nicht mehr sehr vertraut bin. Ich fürchte, ihm nicht gewachsen zu sein. Also bleibt es dabei, dass ich mich zwar einerseits nach dem Alleinsein sehne, es aber nicht wage, mich dem Gefühl tatsächlich auszusetzen. Und dabei das dumpfe Gefühl habe, dass es gerade deswegen eigentlich hilfreich wäre, es zu tun.
Was für ein Luxusproblem! Während ich mich nicht recht entscheiden kann, ob ich das Alleinsein nun erstrebenswert und schön finde oder doch nicht, da leiden andere Menschen unter sozialer Isolation und fühlen sich einsam. Das kann auch dann vorkommen, wenn sie von aussen betrachtet gar nicht allein sind. Womöglich ist das Gefühl der Einsamkeit in Gesellschaft sogar am schmerzhaftesten, wenn die Qualität der Beziehungen nicht so ist wie ersehnt. Jede dritte in der Schweiz wohnhafte Person gab in einer Erhebung des Bundesamts für Statistik 2017 an, unter Einsamkeit zu leiden. Und die Vermutung ist naheliegend, dass diese Zahl in den letzten Jahren stark gewachsen ist.
Angesichts dieser hohen Zahl ist es sehr wahrscheinlich, dass es auch in meinem persönlichen Umfeld Menschen gibt, die sich einsam fühlen. Dass ich das nicht bemerke, stimmt mich nachdenklich. Statt mir im Rahmen der obligaten Selbstoptimierung vorzunehmen, mich dem Alleinsein zu stellen, würde ich möglicherweise besser meine Aufmerksamkeit auf die Menschen richten, die tatsächlich allein sind. Ich möchte Einsamkeit in meinem Umfeld wahrnehmen. Und dann da, wo es mir möglich ist, einen kleinen Beitrag leisten, um sie zu lindern. Denn davon bin ich überzeugt: Gute Angebote und Projekte sind wichtig und unverzichtbar im Kampf gegen die Einsamkeit, aber letztlich sind wir Mitmenschen der Schlüssel, um sie einzudämmen.